HT 2023: Zwischen Faktizität und Konstruktion: fragile Fakten als historisches und historiographisches Problem in der Alten Geschichte

Zwischen Faktizität und Konstruktion: fragile Fakten als historisches und historiographisches Problem in der Alten Geschichte

Organizer(s)
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Hosted by
Universität Leipzig
ZIP
04107
Location
Leipzig
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
19.09.2023 - 22.09.2023
By
Daniel Emmelius, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

In welchem Sinne ist es heute noch angebracht, von historischen Fakten oder gar von der Wahrheit oder Unwahrheit historischer Narrative zu sprechen? In der Antwort auf diese Frage mögen sich Historiker:innen, auch die Organisator:innen dieser Sektion, im Einzelnen unterscheiden. Einigkeit besteht aber zweifellos darin, dass nicht jedes faktuale Narrativ über vergangenes Geschehen die gleiche empirische Triftigkeit besitzt. Ebenfalls dürfte es in der Geschichtswissenschaft weitgehend unstreitig sein, dass es keine aperspektivischen Aussagen über die Wirklichkeit geben kann. Dies wirft aber die Frage auf, warum bestimmte Sachverhalte überhaupt als Fakten anerkannt wurden und werden. Nicht erst in der Gegenwart – so zeigte diese Sektion des Historikertages 2023 eindrücklich –, sondern bereits in der Antike waren Fakten Gegenstand von komplexen Aushandlungsprozessen und insofern fragil. Zugleich ist auch der Umstand nicht neu, dass empirische Triftigkeit bzw. darauf gegründete Faktizität oftmals gar nicht das entscheidende Moment ist, durch das ein Narrativ eine Deutungshoheit erlangt. Daneben spielten in der Antike wie heute sowohl politische und soziale Machtverhältnisse als auch kulturelle Idealbilder eine gewichtige Rolle. Auch in dieser Hinsicht, also im Hinblick auf das argumentative Gewicht anerkannter Fakten, zeigte die Sektion an Fallbeispielen auf, wie fragil der Status des Faktischen bereits in der Antike war.

ALEXANDER MEEUS (Heidelberg) widmete sich zum Auftakt der Sektion dem komplexen Verhältnis von Empirie und Tradition bei ethnographischen Beschreibungen der griechischen und römischen Geographie und Geschichtsschreibung. Einleitend führte Meeus aus, warum es aus seiner Sicht geboten sei, Schilderungen wie die von ihm untersuchten als unwahr zu bezeichnen, um einem auch unter Studierenden verbreiteten Eindruck völliger Beliebigkeit wissenschaftlicher Aussagen wirksam entgegentreten zu können. Insofern sie diese Haltung befördert hätten, seien konstruktivistische Positionen mit ihrer grundsätzlich berechtigten Kritik am Positivismus zu weit gegangen. Anhand von Strabons Behandlung der homerischen Lotophagen1 sowie von Tacitus‘ Judenexkurs2 zeigte Meeus sodann, welches Gewicht traditionelle Autoritäten gerade in diesem Feld bis in die römische Kaiserzeit behielten. Dies erscheint umso erklärungsbedürftiger, als es für die Autoren und ihr Lesepublikum vergleichsweise problemlos möglich gewesen sein müsse, die betreffenden Darstellungen empirisch als unzutreffend zu erweisen. Diese immer wieder zu beobachtende Sachlage erklärte Meeus, indem er auf einen Traditionalismus hinwies, der bei Griechen und Römern in ähnlicher Weise als epistemische Tugend gegolten habe. Entscheidend sei in erster Linie gewesen, dass die betreffenden Narrationen für die Rezipienten Sinn ergeben hätten. Mit Verweis auf die aristotelischen Endoxa hob Meeus zudem den hohen Wert hervor, den viele antike Autoren dem Konsens beimaßen, ohne dass sich dabei freilich ein Reiz des Neuen und ein Interesse am Kontroversen leugnen ließen. In der Begrifflichkeit Jörn Rüsens könnte man vielleicht davon sprechen, dass bei den hier untersuchten Narrationen empirische Plausibilität gegenüber narrativer und normativer Plausibilität von untergeordneter Relevanz war.

ELENA FRANCHI (Trento) griff in ihrem Beitrag das Konzept der Intentionalen Geschichte nach Hans-Joachim Gehrke auf und untersuchte am Beispiel der Phoker und Athener, wie die Konstruktion von Vergangenheitserzählungen unterschiedlicher politischer Gemeinwesen im klassischen Griechenland und deren überlokale Anerkennung miteinander zusammenhing. Franchi wies darauf hin, dass die Intentionale Geschichte der Phoker uns nur in vermittelter Form durch athenische Quellen zugänglich ist. Die hier vorliegenden Berichte seien allerdings plausibel auf phokische mündliche Berichte zurückzuführen, die sich freilich an ein athenisches Publikum gerichtet hätten. Überzeugend argumentierte Franchi, dass phokische und athenische Akteure durch ihr historisches Erzählen einen „middle ground“ zwischen phokischen und athenischen Vergangenheitsvorstellungen hergestellt hätten. Bei wesentlichen Aspekten dieser uns überlieferten Erzählungen über die Geschichte der Phoker sei daher von einer phokisch-athenischen Ko-Konstruktion auszugehen, insofern die gegenwärtigen Interessen der Bündnispartner in vielen Punkten konvergierten. Die Intentionalen Geschichten der Phoker und der Athener standen, so Franchi, miteinander im Dialog, ja, sie beeinflussten sich auch gegenseitig. Exemplarisch konnte Franchi diesen Zusammenhang anhand von drei entscheidenden Wendepunkten der phokischen Geschichte plausibel machen. Dies waren einerseits die Niederlage an den Thermopylen, die eine Verwüstung von Phokis durch die Perser nach sich zog, andererseits Kriege, in denen es um die Kontrolle des Heiligtums von Delphi ging und die in der Forschung als der Zweite bzw. Dritte Heilige Krieg bezeichnet werden.

Der Beitrag von JONAS SCHERR (Stuttgart) rückte eine historische Einzelperson und ihre Rolle bei der Etablierung von historisch-geographischem Wissen als Fakten in den Mittelpunkt: den nordafrikanischen Monarchen Juba II. von Mauretanien (ca. 50 v.u.Z. – 23 u.Z.). Dabei ging Scherr zuerst von dessen ungewöhnlicher Biographie aus: der später als rex literatissimus (Ampelius) bezeichnete Juba II. war als Sohn des von Rom besiegten Numiderkönigs Jubas I. als Kind nach Italien gebracht worden und hatte sich in der Folge dort gelehrten Studien gewidmet. Gerade durch Behandlung von in augusteischer Zeit aktuellen Themen wie der römischen Urgeschichte oder des Tempelbaus, habe er sich früh, so Scherr, einen „Nimbus“ als Experte verschafft. Diesen habe er dann, so Scherrs These, geradezu manipulativ eingesetzt, zunächst um seinen politischen Aufstieg unter der Herrschaft des Augustus zu befördern. Nachdem Augustus ihn als König in Mauretanien eingesetzt hatte, widmete sich Juba II. in seinen späteren Forschungen und Werken der Geographie und Geschichte Afrikas. Wie Scherr sowohl anhand literarischer wie numismatischer Zeugnisse plausibel machen konnte, gelang es Juba offenbar so, nicht nur seinen eigenen politischen Status abzusichern, sondern auch den Status dieser Weltregion innerhalb der griechisch-römischen Welt nachhaltig zu erhöhen. Besonders eindrücklich zeigte dies etwa die von Juba forcierte Integration des Herakles in eine neue afrikanische Ursprungserzählung.

Ins spätrepublikanische Rom führte der Beitrag von ELISABETTA LUPI (Rostock). Sie untersuchte in Ihrem Beitrag die Wirksamkeit des Argumentierens mit exempla in rhetorischen Kontexten jener Zeit. Dabei zeigte sie zunächst, dass ältere exempla, anders als man erwarten könnte, nicht grundsätzlich gegenüber neueren das größere Gewicht zu entfalten vermochten. Zugleich konnten neue (exempla recentia) bzw. neuartige exempla (exempla nova) durchaus im positiven Sinne aufgerufen und auch so benannt werden, ohne damit im Streit der historischen Argumente zu unterliegen. Ältere exempla (exempla vetera) waren indes auch selbst nicht unangreifbar, und in diesem Zusammenhang, so Lupi, habe nun auch der Aspekt der fragilen Faktizität eine Rolle gespielt. So konnte sie belegen, dass gerade ältere exempla in besonderer Weise dadurch angreifbar waren, dass ihre Faktizität explizit in Frage gestellt werden konnte. Durch eine breite Auswahl einschlägiger Zeugnisse wurde zudem deutlich, dass das beschriebene Phänomen nicht auf bestimmte Autoren oder situative Redekontexte beschränkt war. Vielmehr lässt es sich offenbar in den Quellen – von besonderer Bedeutung waren hier Cicero und Livius – sowohl für Gerichtsreden als auch für Reden bei der informellen contio sowie nicht zuletzt auch in Senatsdebatten greifen. Insgesamt konnte Lupi deutlich machen, wie sehr exempla spätestens im Rom der späten Republik verhandelbar geworden waren, und dass dabei das Problem fragiler Faktizität zwar nicht allein ausschlaggebend, aber doch von nicht zu unterschätzendem Gewicht war.

ANABELLE THURN (Freiburg) machte mit ihrem Beitrag schließlich ein Schritt in die Gegenwart. Am Beispiel der Chiffre der (spät-)römischen Dekadenz, die Thurn als Kulturmythos konzeptualisiert, konnte sie zeigen, wie Tradition an sich dazu beiträgt, dass bestimmte Vorstellungen gesellschaftlich als Fakten anerkannt werden. Die gilt offenbar selbst dann, wenn ihnen jede empirische Triftigkeit fehlt und dies auch von Laien leicht in Erfahrung zu bringen wäre. In diesem Zusammenhang verwies Thurn unter anderem auf den Umstand, dass selbst leicht zugängliche und vielgenutzte Nachschlagewerke wie Wikipedia, die im konkreten Fall den Stand der Forschung im Großen und Ganzen korrekt wiedergeben, offenbar kaum einen Einfluss auf den Kulturmythos entfalten können. (Spät-)römische Dekadenz, und mithin die Vorstellung, dass wahlweise die römische Republik oder das spätantike römische Reich wesentlich an der moralischen Defizienz der tragenden Akteure zugrunde gegangen sei, wird im politischen Diskurs immer wieder als Faktum aufgerufen. Für das Beispiel des früheren Bundesaußenministers Guido Westerwelle, der durch die Rede von spätrömischer Dekadenz auf deutlichen Widerspruch gestoßen war und die Formulierung schließlich zurücknahm, zeigte Thurn ferner, dass sogar diese (Selbst-)kritik sich allein auf ihre Angemessenheit im konkreten gegenwärtigen Kontext bezog und völlig unabhängig von der Frage der wissenschaftlichen Haltbarkeit des zugrundeliegenden Narrativs über das antike Rom erfolgt war. Zu einer Korrektur des Narrativs selbst sei es folglich auch nicht gekommen. 3 Es sei, so Thurns pessimistische These, mithin davon auszugehen, dass im Falle des Mythos der (spät-)römischen Dekadenz die beschriebene Faktualisierung durch Tradition irreversibel sei. Vielmehr könne man hier, insofern es sich um einen Kulturmythos handele, lediglich noch den Grad der politischen Funktionalisierung zu ermessen versuchen.
Insgesamt zeichnete sich die Sektion besonders durch die Vielfalt und zeitliche Spanne der behandelten Gegenstände aus, wobei aber gleichzeitig das übergeordnete Problem nicht aus dem Blick geriet. Interessante Anknüpfungspunkte bestehen dabei insbesondere zur ersten althistorischen Sektion dieses Historikertages „Fiktionalisierung – Manipulation – Instrumentalisierung. Der Umgang mit historischen Fakten in den Quellen der frühen bis hohen Kaiserzeit“. Fakten erwiesen sich hier wie dort als konstruiert und ko-konstruiert, als fragil oder in bestimmen Zusammenhängen gar als irrelevant. All dies regt zu einem differenzierteren Blick auf gängige Gegenwartsdiagnosen rund um den Begriff des „postfaktischen Zeitalters“ an und fordert dazu heraus, genauer zu bestimmen, worin dessen Neuartigkeit besteht.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Elisabetta Lupi (Rostock) / Alexander Meeus (Heidelberg) / Anabelle Thurn (Freiburg)

Alexander Meeus (Heidelberg): Forschung, Faktizität und Tradition in der griechisch-römischen Ethnographie

Elena Franchi (Trento): Intentionale Geschichten im Dialog: die Phoker und die anderen Griechen

Jonas Scherr (Stuttgart): Expertentum und Propaganda: Iuba II. von Mauretanien und die Gelehrsamkeit

Elisabetta Lupi (Rostock): Die Eröffnung neuer Möglichkeiten durch die rhetorische Verhandlung von exempla

Anabelle Thurn (Freiburg): Faktualisierungsphänomen Tradition. Dekadenz-Diskurse zwischen Republik und Gegenwart

Anmerkungen:
1 Strab. 1,2,17 (25C) und 3,4,3 (158C).
2 Tac. hist. 5,2-5.
3 Guido Westerwelle: An die deutsche Mittelschicht denkt niemand, in: Welt online, 11.02.2010, https://www.welt.de/debatte/article6347490/An-die-deutsche-Mittelschicht-denkt-niemand.html (04.10.2023); Vgl. auch Welt online, 22.03.2010, https://www.welt.de/politik/deutschland/article114687374/Westerwelle-bereut-die-spaetroemische-Dekadenz.html (04.10.2023).

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